Digital Culture Fitness – in der Vergangenheit

Was können wir aus dem ersten „Digitalisierungs-Schub“ in den 1990er Jahren für heute lernen?

„Was wir heute im Nachhinein als laues Lüftchen der Veränderung erinnern, glich in den 1990er-Jahren vielen Anwendern einer Revolution ihres Arbeitsalltags.“ – Dr. Anette Fintz

Es war einmal … vor kurzer Zeit

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der Excel der große Sprung nach vorn war? Es war genial: selbst wenn sich mehrere Faktoren mitten in der Liste veränderten, wurden sofort die damit zusammenhängenden Zahlen und in Folge Ergebnis und sogar die Diagramme angepasst. Wer sich richtig reinfuchste, fand unendliche Weiten des Machbaren im Universum des Fakturierens! 

WORD gewann noch schneller an Popularität. Plötzlich „öffneten“ viele „das Fenster“ während sie am Schreibtisch saßen. Wie schnell konnten Dateien erstellt werden, wie einfach Abschnitte verschoben – ganz ohne Schere, Kleber und Kopierer. 

Powerpoint löste den Overhead-Projektor in Hörsälen ab, Mails setzten sich schnell gegen das Fax oder gar den Postbrief durch – jedenfalls außerhalb von Behörden. 

Microsoft Office löste eine echte Umwälzung von Büro- und Sitzungskultur aus. Was wir heute im Nachhinein als laues Lüftchen der Veränderung erinnern, glich in den 1990er-Jahren vielen Anwendern einer Revolution ihres Arbeitsalltags. Revolutionen spalten: die einen nehmen die neue Ordnung begeistert auf, die anderen fühlen sich in ihr maximal unwohl oder überfordert. Hier war es nicht anders. 

Unverschämt: „Hallo Frau Schneider!“

Auf vielen Schreibtischen stand neben dem PC noch jahrelang eine elektrische Schreibmaschine (oder war es umgekehrt??). WENN dann eine Mail zur Kenntnis genommen wurde, scheiterte deren Erledigung nicht selten an der Anrede. Konkretes Beispiel:
„Hallo Frau Schneider, …“ löste bei einem meiner Mandanten heftigen Ärger aus. Weil Mails nämlich lange als Briefersatz angesehen wurden, hielten gerade die Profis im Sekretariat an den entsprechenden Formeln fest. Ein Brief – also auch eine Mail – hatte mit „Sehr geehrte Frau Schneider“ zu beginnen und „… mit freundlichen Grüßen“ zu enden. „Hallo Frau Schneider …“ wurde als Affront aufgefasst. Echte Empörung rief vor allem der amerikanische Stil hervor: „Frau Schneider, (bitte) Vorlage für Firma Mayer fertig machen. thx LR (LR für Ludwig Reichel)“. Formulierungen in Mails konnten zu heftigen, ernstzunehmenden Konflikten führen.

Tatsächlich folgten auf die Einführung von Microsoft Office in vielen Unternehmen wütende Tränen, heftige Auseinandersetzungen bis hin zu Trennungen. Galten denn Steno-Kenntnisse und selbst ausgetüftelte Dokumentations- und Ablagesysteme gar nichts mehr?! Wo blieb die Wertschätzung für angeeignete Kompetenzen und hart erarbeitete Lösungen?

Was hier wie aus einem alten Schwarz-Weiß-Film klingt, ist gute fünfundzwanzig Jahre her.

Als junge Coach habe ich damals viel über die Abgründe von gefühlter Missachtung und der Angst vor Versagen gelernt. Und als erfahrene Coach beobachte ich heute exakt dasselbe wieder. Leider wurde aus diesen Anfängen der Digitalisierung wenig gelernt.

War es denn die vermeintlich komplizierte Anwendung, die zeitweise den Zeitgewinn der Tools durch Diskussionen und Streitereien aufzuheben schien? Nein. Es waren Menschen mit ihrer Berufs-Erfahrung – und vor allem mit ihrer Angst.

„Das Gespenst der Digitalisierung stellt für manche noch eine Herausforderung dar.“ – Dr. Anette Fintz

Alles ging für alle gut

Ich frage mich: Weshalb erinnert sich heute niemand mehr an diesen emotionsreichen Teil der Veränderung, die sich für alle – wirklich alle! – Schreibtischarbeiten in Unternehmen ergab? Wer damals studierte oder die Ausbildung absolvierte, wird sich noch gut an den Übergang von überklebten Kopien von Abschlussarbeiten zu wohlformatierten Vorlagen auf dem PC erinnern. Neben egal welchem Fach lernte man hier nolens volens, sich mit Formatvorlagen und Druckertreibern herumzuschlagen. 

Oma erzählt also nicht vom Krieg, sondern von den Anfängen der Kämpfe mit dem allgemeinen Einzug der IT in das eigene (Berufs-)Leben. 

Und doch redet keiner mehr darüber. Als sei diese Phase der ersten Digitalisierungswelle nichts gewesen. Warum? 

Der wesentliche Grund für diese enorme Gedächtnislücke liegt vermutlich darin, dass im Laufe der Folgejahre die betreffenden Menschen allmählich einfach ausgetauscht wurden. 

Zeitgleich mit der Einführung von MS Office wurde nämlich teilweise ein Generationenwechsel vorgezogen, der sonst kurz darauf sowieso zum Zuge gekommen wäre.  

Mitte der 1980er Jahre waren die Baby-Boomer aus überfüllten Klassenzimmern in überfüllte Hörsäle oder Ausbildungsstätten gespült worden. Von dort aus wurden sie auf die Jagd nach Arbeitsplätzen geschickt, die von den Kindern des Wirtschaftswunders gut besetzt waren. Anfang der 1990er lernte die bis dahin wenig verwöhnte Generation der Vielen, mit Computer-Maus & Co umzugehen. Das war nicht ganz ohne, denn die Software war in ihrer Anwendung noch reichlich sperrig und kannte keine Fehlertoleranz. Einschlägige Volkshochschul-Kurse hatten lange Wartelisten, Unternehmen buchten „EDV-Kurse“ für ihre Mitarbeitenden. Wer jung und neugierig oder älter und flexibel war, bekam neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Ängstlichen konnten nur bleiben, wo Chefs sich mit Macht gegen alles Neue stemmten – und im Abseits landeten. Manche durften noch den Übergang verwalten, viele gingen durchaus gerne und unter guten Bedingungen früher in Rente. 

Ein Teil der Büro-Revolution lief allerdings schief: Statt des papierlosen Büros führte die Einführung der PCs und Mails jahrelang zu einem beispiellosen Verbrauch von Toner und Papier. Auch die Baby Boomer konnten scheinbar nicht von der gewohnten Haptik eines Textes auf Papier nicht lassen. Als Begründung kam meistens: „Sicher ist sicher“; der regelmäßige Absturz ihres PCs gab ihnen lange noch recht. 

Was blieb

Insgesamt war die Einführung von Microsoft Office und allem, was sich anschloss („googeln“, Wikipedia, Smartphones, iPad) eine riesige Erfolgsgeschichte. Junge, gut ausgebildete Menschen konnten ihre Karriere aufbauen. Alte blickten stolz darauf zurück, den Wohlstand mitaufgebaut zu haben. Wieder vereint war Deutschland um die 2000er technologisch vorne, die Wirtschaft erfuhr Wachstum, die Renten waren sicher.

Alles war gut gegangen.

Das wird so nicht noch einmal passieren.

Was wird

Heute sind nicht alleine die alternden Generationen ein Problem angesichts der Digitalisierung, vielmehr die wachsende Verunsicherung, das erodierende Vertrauen. Führungspersönlichkeiten in Unternehmen kommt hier eine ganz besondere Rolle zu. Sie sind diejenigen, die man fragen, erleben und beobachten kann.

Sie sind diejenigen, die „das Gespenst der Digitalisierung“ zu einer Gestalt verwandeln können, die vielleicht noch eine große Herausforderung darstellt, aber nicht mehr dazu führt, dass bis anhin vernünftige Menschen mit absurden Argumenten gegen die Zukunft versuchen anzugehen.

Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Führungspersönlichkeiten in Europa und der sogenannten westlichen Welt es schaffen, Mitarbeitende so (zurück) zu gewinnen, dass sie sich offen auf das Neue einlassen.

Auch dieses Mal werden einige Unternehmen noch lange bei der „elektrischen Schreibmaschine“ bleiben. Sie werden auch dieses Mal zunehmend ins Abseits geraten.

Im Unterschied zu damals sind deren Renten allerdings nicht mehr sicher.

Die Autorin #Gastbeitrag

Kunden charakterisieren Anette als „kompetent, ernsthaft, analytisch – kreativ, offen, pragmatisch“. Fokus der in Philosophie promovierten Coach ist die Verbindung von Wissen und Erfahrung mit gezielter Umsetzung für die Zukunft.  

Damit das gelingt, gründete sie 1998 das Institut für Sinn-orientierte Beratung ISOB (www.isob.de). Von Radolfzell und Zürich aus coacht Anette, hält Vorträge und schreibt seit 2006 Fachbücher und Einzelbeiträge zu den Themen Führung, Transformation, Digitalisierung und Kommunikation. Ihre Auftraggeber sind mehrheitlich Führungspersonen technikgetriebener Unternehmen (D/A/CH). Weiterbildungen nach dem Studium: Coach der Wirtschaft, Logotherapeutin, CAS Digital Ethik, Struktogramm, LEGO® Serious Play Facilitator. 

DR. ANETTE FINTZ
Führungs- und Transformations-Begleiterin